Die Gründer des Berliner Kondomherstellers einhorn sind in ihrer Rolle als Chefs zurückgetreten und wollen Einhorn nun sogar zu einer “Self-Owned Company” machen. Ein Gespräch mit den Mitarbeitenden Linda und David über die Vorbereitung eines Teams zur Übernahme von Entscheidungen, Verantwortung und Geschäftsanteilen.
Babbel for Business (BfB): Linda und David, ihr arbeitet schon länger bei einhorn, ein Unternehmen welches sich viel mit sich selbst also mit seiner eigenen Arbeitsweise beschäftigt. Wie sehen eure Zuständigkeiten im Unternehmen aus?
Linda: Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren bei einhorn im “Fairstainability”-Team, das sich um das verantwortungsvolle Handeln des Unternehmens kümmert. Ich selbst bin für die Beschaffung von nachhaltigem Kautschuk für unsere Kondome zuständig. Ich organisiere aber auch die Offsites, die alle zwei Jahre stattfinden. In denen ziehen wir uns aus dem Tagesgeschäft zurück und beschäftigen uns mit uns selbst. Zu Beginn habe ich nur das Event als solches organisiert, aber nicht die Inhalte. Letzten Sommer bin ich aber irgendwie in das einhorn-Flow-Team gerutscht. Das beschäftigt sich mit New Work und klärt Fragen, wie wir zusammenarbeiten.
David: Eigentlich bin ich für Logistik zuständig. Wir versuchen aber verschiedene Bereiche abzudecken und können im Prinzip machen, was wir wollen. So war ich auch mal im Gehaltsrat und bin nun Teil des einhorn-Flow-Teams, dass unsere Unternehmenskultur gestaltet.
BfB: Jeder kann machen, was er will? Ist das nicht chaotisch?
David: Zumindest besteht grundsätzlich die Möglichkeit, alles zu machen, was wir wollen. Aber jeder verantwortet ein Kerngebiet. Unserer Buchhalterin ist beispielsweise ganz klar, dass sie für Dinge wie die Bilanz zuständig ist, auch wenn sie vielleicht mal keine große Lust darauf hat. Wir sind alle mündig, da gehört aber auch dazu, dass wir Verantwortlichkeiten in unserem Kerngebiet anerkennen. Wenn aber zusätzliche Dinge anfallen, die das Team als notwendig ansieht, wird ein Gebiet geschaffen.
Linda: Das einhorn-Flow-Team beispielsweise entstand aus der Initiative einer Kollegin, die sich über New Work informiert hat, mit Experten gesprochen hat und eigens ein paar Sachen ausprobiert hat.
BfB: Bedeuten solche Initiativen nicht einen großen Machtverlust für die Gründer?
David: Natürlich, aber dieser Machtverlust ist gewollt. Schließlich kommt die Idee, sämtliche Entscheidungskompetenzen abgeben zu wollen, von den Gründern selbst. Waldemar und Philip wollen, dass wir selber Verantwortung im Unternehmen tragen, also sozusagen Unternehmer im Unternehmen sind.
Linda: Für uns selbst war das anfänglich auch eine Umstellung: Haben wir Waldemar oder Philip um eine Lösung für unser Problem gebeten, antworteten sie mit der Gegenfrage: “Was würdest du denn machen?” Immer nach dem Motto: Triff die Entscheidungen selbst – egal wie viel Arbeitserfahrung du hast.
Linda & David von Einhorn (alle Fotos – ©einhorn)
BfB: Und wie werden Entscheidungen getroffen?
Linda: Wir haben Verantwortungsbereiche, in denen jeder seine eigene Entscheidungen trifft. Da steht derjenige auch für die Konsequenzen seiner Entscheidungen gerade und kann nicht sagen, “mein Chef hat aber…”. Gleichzeitig gibt es aber auch Bereiche, die mit mehreren Personen abgestimmt werden müssen, da sie andere Teams oder die Außenwirkung betreffen.
BfB: David, du warst für den Gehaltsrat zuständig und musstest bestimmen, wer wie viel Geld verdient. Wie lief das ab?
David: Drei Personen versuchen innerhalb eines Jahres ein faires und transparentes Gehaltssystem für alle Mitarbeitenden zu erarbeiten. Nach einem Jahr wechselt der Gehaltsrat zum Glück, denn das war echt eine anstrengende Aufgabe.
BfB: … anstrengend, weil du dich rechtfertigen musstest? Und wie sah euer Gehaltssystem konkret aus?
David: Gehalt ist ein Thema, bei dem viele Ängste entstehen. Schließlich will jeder eine möglichst faire Bezahlung bekommen. Aber wir haben auch Fehler in der Kommunikation gemacht.
Das Gehalt setzte sich aus einem Grundgehalt und verschieden gewichteten Faktoren wie beispielsweise Berufserfahrung, Ausbildungsweg oder ob jemand Kinder hat zusammen. Wir haben aber auch berücksichtigt, wenn jemand aus besonderen Gründen für einen bestimmten Zeitraum etwas mehr Geld braucht. Dazu haben wir Einzelgespräche geführt, und die Kernergebnisse grundsätzlich offen gelegt. Das Gehaltssystem sollte transparent, fair und flexibel sein – und hat nicht zu 100% funktioniert, unter anderem weil wir uns als Unternehmen und in der Teamzusammenstellung seit der Erarbeitung verändert haben. Es hat lange gedauert bis wir Lösungen gefunden haben, die fast fair sind. Vielleicht schafft der zweite Gehaltsrat es ja, das System noch zu verbessern.
BfB: Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich Frauen eher unterschätzen, Männer eher überschätzen. Hat sich das in den Einzelgesprächen zum Gehalt bestätigt?
David: Nein, das war super individuell. Manche Frauen waren schüchterner, andere waren fordernder. Das war bei den Männern genauso.
BfB: Ihr seid in vielen Dingen anders als andere Unternehmen. Wie anstrengend ist das?
Linda: Ich glaube es ist manchmal anstrengend, weil es kein vorgefertigtes System gibt, in das wir reinpassen. Nach dem Motto: Das wurde schon immer so gemacht und deswegen machen wir das genau nicht so. Das sorgt schon für Stress, Reibereien und Konfliktpotenzial. Gleichzeitig ist es aber auch erfüllend, wenn wir sehen, dass eine Sache die “unicornique” ist, funktioniert – dann hat der Stress sich gelohnt.
BfB: Wann kommt es bei euch beispielsweise zu Reibereien?
David: Feedback einfordern ist zum Beispiel immer schwierig, weil die Angst vor Negativem besteht. Andersrum ist Feedback geben auch mit Unsicherheit verbunden: Kann ich das Feedback geben, ist es erwünscht und habe ich überhaupt das Recht dazu?
Linda: Auch bereichsübergreifende Entscheidungen zu treffen ist immer eine Herausforderung. Wer ist betroffen und wer trägt die finale Entscheidung? Wir wollen derzeit einen Prozess einführen, der diese bereichsübergreifenden Entscheidungen vereinfacht und doch darf der Prozess nicht zu viel regulieren. Wir haben schließlich eine krasse Agilität in unserer Arbeit: Wir entscheiden uns auch mal eben kurz für eine neue Produktlinie. Solche kurzfristigen Entscheidungen wären natürlich nicht passiert, hätten sie erst Prozesse durchlaufen müssen. Das ist immer ein Konflikt zwischen „Ja wir rennen alle los“ und „Ups, wir haben nicht alle abgeholt“.
BfB: Um Reibereien möglichst zu vermeiden, nutzt ihr die gewaltfreie Kommunikation. Wie gelingt es euch, dass euer ganzes Team diese beherrscht?
Linda: Anfangs hatten wir Workshops, damit wir alle die Grundlagen gewaltfreier Kommunikation (GFK) erlernen. Wir haben jetzt circa einmal im Monat ein sogenanntes clear-the-air-Meeting, in dem wir Dinge ansprechen, die uns stören. Das kann einzelne Personen betreffen, aber eben auch das ganze Team. Es ist freiwillig und während der Arbeitszeit. In diesem Meeting werden viele Bauchschmerzen gelöst, weil wir einen „sicheren“ Raum haben, indem wir alle Konflikte ansprechen können.
BfB: Wie viele Mitarbeitende nehmen denn trotz der Freiwilligkeit an den clear-the-air-Meetings teil?
David: Das kommt immer auf die Projekte an, die zurzeit laufen. Beim letzten Meeting waren zum Beispiel nicht alle da. Und eigentlich hat auch keiner von uns wirklich Lust darauf. Wir wissen ja, gleich gibt es Stress und es wird diskutiert. Dann sitzen wir da und denken: „Eigentlich müsste ich ja noch E-Mails schreiben.“ Aber während der Meetings und vor allem danach bemerken wir den Mehrwert: Man erfährt etwas über andere, was man vorher nicht wusste, ist viel emphatischer und denkt über sich selber nach. Denn wenn eine Person etwas Störendes beschreibt, reflektieren alle: Was hab ich getan, könnte ich das selber sein? Ich glaube, seitdem wir GFK machen, haben wir unglaublich viel in Sachen Kommunikation gelernt – auch im Privaten. Wenn ich mit Kumpels einen Streit habe, dann merke ich immer: Oh okay, das war jetzt nicht GFK.
BfB: Wirkt sich das negativ aus, wenn Menschen des Teams nie zum clear-the-air-Meeting kommen?
Linda: Es gibt schon Leute, die haben einfach überhaupt kein Bock auf die Treffen. Und das ist auch okay, weil du bereit sein musst, dich zu öffnen. Und keiner sollte dazu verpflichtet werden. Allerdings entgeht einem auch einiges, denn wenn man ein Meeting verpasst hat, wird keiner berichten, was in dem “sicheren Raum” besprochen wurde.
BfB: Ihr seid ja noch ein relativ kleines Team. Welche Konzepte könnte man von euch auf andere/größere Unternehmen übertragen? Geht das überhaupt?
David: Ich weiß nicht, bei New Work gibt es schließlich nicht die eine Lösung. Vieles funktioniert ja auch nur, weil sich die Teams sehr gut verstehen.
Linda: Aber gleichzeitig glaube ich schon, dass sich zum Beispiel GFK und die Offsites auch bei anderen Unternehmen durchsetzen könnten und, dass wir uns überhaupt mit uns beschäftigen, ist ein Mehrwert.
David: Ich nehm alles zurück, Linda hat recht.
Linda: Naja, GFK kann man auch nicht mit 500 Leuten machen, aber dafür in einzelnen Teams. In Unternehmen muss Verantwortung abgegeben und Vertrauen geschenkt werden. Lass deine Leute auch Fehler machen, damit sie daraus lernen.
BfB: Habt ihr Angst, dass euer Miteinander leidet, wenn einhorn wächst?
Linda: Im letzten Jahr sind mehrere Praktikanten gleichzeitig dazugekommen. Ich habe schon gemerkt, dass es ein bisschen anders ist. Ich habe aber keine Angst davor, dass wir es nicht hinbekommen, den Spirit weiterzutragen. Es wird sich eben verändern, das ist ein Prozess, anders, aber nicht schlechter. Es geht uns in erster Linie aber auch nicht ums Wachstum. Das entscheidet einfach der Bedarf.
David: Ich glaube trotzdem, es gibt im Unternehmen durchaus genau diese Bedenken. Ich glaube, wir müssen einfach weiterhin zeigen, dass wir an uns arbeiten und dass jeder gehört wird. Angst ist ja auch menschlich.
BfB: Die Gründer haben derzeit die meisten Anteile am Unternehmen, wollen das aber ändern. Wie wird das ablaufen?
Linda: Wir haben bisher keine externen Investoren. Jeder Gründer hat 50 Prozent Eigenanteil. Nach dem Motto “Unfuck the economy” wollten die Gründer es unmöglich machen, dass sie hinterher mit 10 Mio Euro das Unternehmen verlassen. Außerdem wollen sie sicherstellen, dass der Sinn und Zweck des Unternehmens erhalten bleibt und nicht externe Kapitalgeber zu viel mitbestimmen können. Diese Grundbausteine haben dazu geführt, das Einhorn nun Teil der Purpose-Stiftung wird.
BfB: Aber ihr gebt sowieso schon jetzt einen Teil für Nachhaltigkeit aus?
Linda: Ja, aber schon seit Beginn – wir sind ja ein Social Business. Und deshalb werden 50% unserer Gewinne in Fairstainability-Projekte investiert. Konkret heißt das, dass beispielsweise die Bäuerinnen und Bauern unserer Partner-Kautschukplantagen Premienauszahlungen erhalten oder wir in weitere Forschungsarbeit zu nachhaltigeren Verpackungen investieren. Wir wollen kein Greenwashing oder andere unehrliche PR-Maßnahmen. Bei Fairstainability geht es darum in langfristige Beziehungen zu investieren und unseren Partnern auf Augenhöhe zu begegnen. Das bedeutet unter anderem auch eine faire Bezahlung.
BfB: Mitarbeitende werden zu Unternehmern, Gewinne fließen in Nachhaltigkeit und Arbeitsprozesse werden ständig überdacht. Das fordert eine grundsätzliche Offenheit des Teams. Wie findet ihr neue Mitarbeitende?
Linda: (lacht) Die finden uns!
David: Wir teilen alle eine Vision und feiern das, was wir erreichen wollen. Ich glaube, dadurch lässt man sich auch auf gewisse Spannungen ein. Wir sind schließlich alle nicht nur hier, um in einem 9-to-5-Job Geld zu verdienen. Wir wollen alle etwas verändern. Auch wenn wir also unterschiedlich sind, haben wir ein gemeinsames Mindset und das zieht einfach die passenden Bewerber*innen an.
BfB: Vielen Dank euch beiden!
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